„Den Fortschritt neu denken“: Über dieses Thema sprach Kardinal Reinhard Marx am Sonntagabend beim Neujahrsempfang des Industrie- und Wirtschaftsverbunds Mühldorf (IVM) und der Industriegemeinschaft Waldkraiburg und Aschau (IGW) im Mühldorfer Stadtsaal.
Mühldorf – Der 22. Neujahrsempfang in Mühldorf wird den rund 350 Gästen aus Mittelstand, Industrie, Finanzwelt und Politik in Erinnerung bleiben. Kardinal Reinhard Marx hinterließ mit seinem Vortrag über das Thema „Den Fortschritt neu denken – Überlegungen im Anschluss an die Verkündigung von Papst Franziskus“ Eindruck, sprach vielen Zuhörern aus der Seele und allen ins Gewissen.
Bevor es ums Grundsätzliche ging, wurde es konkret. IVM-Vorsitzender Ulrich Burkhard blickte auf das vergangene Jahr zurück und griff dabei die Punkte auf, die ihm Sorgen bereiten. Neben dem Verkehrschaos in Mühldorf (siehe Bericht unten) gehören unter anderem auch die anstehenden Tarifverhandlungen in der Metallindustrie dazu, für die sich Burkhard mehr Augenmaß und Weitsicht wünscht. „Die Forderungen gleichen einer Treibjagd.“ Schließlich verhielten sich Arbeitsplätze wie scheue Rehe. „Sie gehen am Ende dahin, wo die besten Bedingungen herrschen.“
„Gegen sichere Außengrenzen ist nichts zu sagen. Aber die Zukunft Europas stelle ich mir ohne trump‘sche Mauern vor.“ Reinhard Marx
Für die Zukunft erwartet Burkhard tiefgreifende Veränderungen. „Ein Verbrennungsmotor besteht aus Tausenden Teilen, ein Elektromotor gerade noch aus 300. Die Auswirkungen auf unsere Arbeitswelt können wir uns heute noch gar nicht vorstellen.“
Bei allem Fortschritt mit Digitalisierung und Robotik dürfe die Menschlichkeit und das Miteinander nicht verloren gehen. Mit diesen Worten leitete Landrat Georg Huber zum Festvortrag des Kardinals Reinhard Marx über, der für den Einstieg in das Thema einen historischen Ansatz wählte.
Als der Apostel Paulus das Christentum nach Europa brachte, habe laut Marx nicht nur eine neue Zeitrechnung begonnen, sondern sich auch die Sicht der Dinge verändert: „Der Blick ging nach vorne. Denn die Christen sehen in der Schöpfung nicht nur einen Zustand, sie sehen Gabe und Aufgabe zugleich.“ Der Idee des Fortschritts liegen deshalb „große geistige Impulse zugrunde, auf die wir uns heute noch beziehen können und müssen“.
Die Industrialisierung und Moderne habe schließlich alles verändert: „Wir haben gelernt, die Natur zu beherrschen. In Verbindung mit der Gewinnerwartung des Kapitals bekam der Mensch eine neue Triebfeder für sein Handeln.“ Kardinal Marx forderte die Zuhörer auf, diesen Lauf der Dinge eben nicht einfach hinzunehmen: „Das Miteinander einer Gesellschaft muss alles im Blick haben, nicht nur den Gewinn. Wir alle sind Gestalter, wir alle haben Verantwortung.“
Dabei sieht Marx besonders die Europäer in der Pflicht: „Unter Gestaltung verstehe ich nicht, den beiden großen Mächten dieser Welt einfach hinterherzuhecheln.“ In einem verstärkten Nationalismus sieht Marx ebenfalls keinen Ausweg: „Wenn jeder nur an sich denkt, ist nicht an alle gedacht.“ Längst bekämen wir die Rechnung für einen kapitalistisch geprägten Egoismus präsentiert: „Von der Klimaveränderung über die Finanzkrise bis zum Thema Migration: Die sozialen, ökonomischen und ökologischen Folgen sind unübersehbar.“
„Nationalismus heißt Krieg. Da reicht ein kurzer Blick in die Geschichte Europas.“ Kardinal Marx erinnerte an ein Zitat des französischen Ex-Präsidenten Mitterrand.
Deshalb gelte es den Fortschritt ganzheitlich zu sehen: „Wir müssen den Blick dabei auch auf die anderen richten.“ Ziel müsse ein offenes Gemeinwesen sein, in dem alle auf der Grundlage einer gemeinsamen Werteordnung zusammenleben – trotz aller Unterschiede der Kulturen, Konfessionen, Weltanschauungen.
Dass der Kardinal dabei auch die Wirtschaft in der Pflicht sieht, machte er mit einem Zitat von Karl Marx deutlich, der die Wucht der industriellen Revolution frühzeitig erfasst habe: „Der Mensch steht im Mittelpunkt des Wirtschaftens.“